Monatsinterview mit Christian Levrat: «Das Schach lehrt mich, die Konsequenzen meiner Entscheidungen bis zum Schluss zu berechnen»

von Bernard Bovigny (Kommentare: 4)

Christian Levrat, zu diesem Zeitpunkt noch Nationalrat, während einer Simultanvorstellung gegen Nico Georgiadis 2011 auf dem Bundesplatz in Bern

beb - Der Freiburger Christian Levrat ist als Ständerat und Präsident der SP Schweiz bekannt. Weniger bekannt ist seine Leidenschaft für das Schach. Denn obwohl er das Turnierschach wegen seiner verschiedenen Verpflichtungen aufgeben musste (seine Spielstärke betrug bis zu 1931 ELO), hat er nie aufgehört bei jeder Gelegenheit zu spielenim Internet, aber auch unter der Bundeskuppel, wo er gegen den grossen Anatoli Karpow antreten durfte.

Welche Schachfigur spiegelt Ihren Charakter am besten wider und weshalb?

Vielleicht der Springer, das ist die überraschendste aller Figuren, diejenige welche die Kreativität fördert. Diejenige die oft die Schwächen der gegnerischen Stellung aufdeckt. Abgesehen davon: Als SP-Präsident seit über zehn Jahren bin ich eher mit dem Spieler zu vergleichen, also dem Orchester-Dirigenten und nicht mit einer einzelnen Figur.

Wie sind Sie zum Schachsport gekommen?

Vor fast 40 Jahren. An der Sekundarschule wurden fakultative Stunden angeboten. Ich war damals zwölf. Ein Amateur-Spieler weihte uns in die Grundlagen ein. Dann habe ich während fast 20 Jahren mehr oder weniger aktiv für den Schachklub Bulle gespielt, am Schluss in der 1. Liga der Schweizerischen Mannschaftsmeisterschaft.

Welche Rolle spielt Schach in Ihrem Leben?

Es begleitet mich täglich mittels Partien auf www.chess.com auf meinem Handy oder Tablet. Und oft am Abend spiele ich gern noch die eine oder andere Blitzpartie im Internet. Hingegen kann ich nicht mehr genug Zeit freischaufeln für Turniere in der realen Welt, mit einer Ausnahme: Die Championnats de blitz gruérien. Es ist jedoch eher eine Gelegenheit die alten Kumpels zu treffen, als mein Spielniveau zu verbessern.

Wie erklären Sie einem Laien die Faszination des Schachspiels?

Jeder hat seine eigene Motivation. Mir gibt Schach Gelegenheit, abzuschalten und alle meine Sorgen zu vergessen. Es ist einerseits ein auf nur 64 Felder begrenztes Spiel und andererseits ein unbegrenztes Spiel mit Hunderten von Varianten, Tausenden von Entscheiden, die gefällt werden müssen, Strategien, die sich als erfolgreich erweisen – oder auch nicht. Es ist eine Lebensschule, wo ich gelernt habe, meine Gefühle zu kontrollieren und sie zu kanalisieren. Wo man mit Niederlage und Sieg konfrontiert ist. Wo man lernt, zu relativieren.

Was hat das Schach zu Ihrem politischen Engagement beigetragen?

Ich nehme an, dass alle meine näheren Bekannten Ihnen dasselbe sagen werden: Der Wille, die Konsequenzen meiner Entscheide bis zum Schluss zu berechnen. Die Varianten bis zum Schluss zu analysieren. In anderen Worten: Den Schluss des Films zu kennen, bevor ich mich für eine riskante Strategie entscheide.

Politische Strategie, Kombinationen, Planwechsel: Haben Sie nicht manchmal das Gefühl unter der Kuppel Schach zu spielen?

Natürlich ist der Vergleich verlockend. Wir setzen Ziele, wir definieren eine Strategie und arbeiten ständig mit Varianten. Und jedes Jahr werden schöne taktische Züge ausgeführt. Meistens unter Achtung der Regeln. Aber im Gegensatz zum Schach gibt es selten einen klaren Gewinner oder Verlierer. Es gibt Projekte, die vorwärtskommen, in die richtige Richtung oder auch nicht. Und um vorwärts zu kommen, braucht man Verbündete, man muss Allianzen schmieden, manchmal muss man den anderen den Vortritt lassen. Es ähnelt manchmal eher dem Einsetzschach als einer klassischen Schachpartie.

Sie sind als hartnäckiger Politiker bekannt, der seine Ideen bis zum Schluss verfolgt. Ist es im Schach auch so?

Im Blitz wahrscheinlich schon. Da ich nicht wirklich ein guter Spieler bin, werde ich manchmal gezwungen, das Resultat in der Zeitnot zu forcieren! (schmunzelt)

Sie haben das Schach unter die Bundeshauskuppel in Bern eingeführt. Zu welchen Gelegenheiten?

Seit ungefähr zehn Jahren organisieren wir ein Parlaments-Schachturnier für die Gewählten und die Parlaments-Funktionäre. Am Anfang hatten wir durchaus einen gewissen Erfolg, dank guten Klubspielern wie dem Berner Hans Ruedi Wandfluh, dem Appenzeller Hans Altherr oder dem Zürcher Andy Gross. Leider war es in der letzten Legislatur schwieriger, weil wir fast keine Schachspieler mehr haben im Parlament. Aber ich rechne mit den Herbstwahlen und ich bin sicher, dass es sich die SSB-Mitglieder nicht nehmen lassen werden, wieder einige erfahrene Schachspieler zu wählen! (lacht)

Im Rahmen einer helvetischen-russischen politischen Begegnung hatten Sie 2014 die Gelegenheit, gegen Ex-Weltmeister Anatoli Karpow zu spielen. Welche Gefühle hat das in Ihnen ausgelöst?

Eigentlich war es ein Jugendtraum. Ein wenig, wie wenn ein Sonntags-Tennisspieler gegen Federer einen Tennis-Match bestreiten kann. Ein Journalist des «Tages-Anzeiger, der die Partie verfolgt hat, hat danach geschrieben, dass das Benkö-Gambit gegen einen positionell so exakt agierenden Spieler wie Karpow eine schlechte Wahl war. Aber mein einziger Gedanken war, diesen Moment so lange wie möglich zu geniessen. Somit habe ich ihm den Bauer gegeben. Er hat ihn behalten und das Endspiel für sich entschieden. Aber ich war sehr zufrieden damit!

Welche Länder/Orte haben Sie bereist, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben – und warum?

Afrika südlich der Saharawüstesagen wir die Elfenbeinküste, Burkina, Senegal oder den Tschad. Die meisten Bewohner(innen) behalten ein grosses Vertrauen, Energie und Liebeswürdigkeit trotz sehr schweren Lebensbedingungen. Die mentale Kraft, insbesondere der Frauen, die oft die ganze Last der Familie auf sich tragen, berührt mich jedes Mal.

Ein Buch, das Sie uns ans Herz legen möchten (Es muss kein Schachbuch sein).

«Der Fall» von Albert Camus. Der blasierte Blick eines «reuigen Richters» auf sein Leben. Da ist eine stete Mahnung, eine Auflage, seine Grenzen zu überschreiten, sich ständig zu verbessern, um nicht zu versinken. Nicht sehr lustig, aber ein schönes Buch.

Eine Ihrer Schachpartien (gewiss!), an die Sie sich gern erinnern.

Ein Aufstiegsspiel zwischen Bulle und Bümpliz, so weit ich mich erinnern kann, das ist heute über 20 Jahre her. Eine angespannte Partie, eine total verrückte Zeitnotphase, die mein Gegner mit einem weissfeldrigen Läufer beginnt, der dann nach «spontaner» Umwandlung zum schwarzfeldrigen Läufer mutiert. Wir haben die Partie nie mehr rekonstruieren können und haben uns auf ein Remis geeinigt. Ein wenig wie in der Politik, wenn die Dinge zu kompliziert werden, die Reformen zu dringend, dann sitzen wir an einen Tisch und suchen einen Kompromiss So weit so gut, aber in Wirklichkeit reichte uns ein Remis, um den Aufstieg zu schaffen. (lacht)

* Schachvariante, mit zwei Spielern gegen zwei. Man kann dabei die geschlagenen Figuren dem Partner geben, der sie dann auf seinem Brett wieder einsetzen kann.

Porträt

Geburtstag: 7. Juli 1970

Wohnort: Vuadens (FR)

Beruf: Präsident SP Schweiz (seit 2008) und Ständerat (seit 2012)

Ausbildung: lic. iur., mit Hinweis zweisprachig an der Universität Fribourg und Master in Politikwissenschaft an der Universität Leicester; Co-Autor mit dem heutigen Bundesrat Alain Berset von: «Changer d'ère: pour un nouveau contrat gouvernemental» (2007)

Reportage zum russisch-helvetischen Parlamentarier-mit Interview von Christian Levrat: https://www.24heures.ch/suisse/parlementaires-mesurent-anatoly-karpov/story/29244603?track

 

 

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Peter A. Wyss Kommentar von Peter A. Wyss |

Herzlichen Dank für dieses spannende Interview!

Jean-Marc Horber Kommentar von Jean-Marc Horber |

Interessantes Interview, danke Oli!

Carlo Bernasconi Kommentar von Carlo Bernasconi |

Bravo om! Sie sind das Gegenmittel zur Schlaftablette ma.

Oliver Marti Kommentar von Oliver Marti |

Merci für die Blumen, Jean-Marc, die ich gerne an den Autor des französischen Originals und die Übersetzerin weiterleite

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