Interview des Monats mit Oliver Killer: «Früher spielte ich mit Postkarten»

von Markus Angst

Oliver Killer: «Es gab zwar mal Versuche, Fernschach-Turniere ohne Computerunterstützung durchzuführen. Eine reizvolle Idee, aber wer kontrolliert das?»

ma - Oliver Killer ist seit 2017 für die Rubrik Fernschach in der «Schweizerischen Schachzeitung» verantwortlich. Worin besteht für den 47-jährigen Altphilologen der Reiz, sich mit dieser Materie auseinanderzusetzen?

Können Sie für Laien das heutige Fernschach kurz erklären?

Beim Fernschach duellieren sich zwei Spieler über einen Server im Fern-Schach, wobei alle Hilfsmittel erlaubt sind: Partien, Datenbanken, Bibliothek und mittlerweile auch sehr starke Spielprogramme wie Stockfish, Fritz oder Kommodo. Man ist an keine festen Spielzeiten gebunden, da die Bedenkzeit meistens 50 Tage für zehn Züge beträgt.

Und was macht ein Altphilologe?

Ich bin eigentlich nicht Altphilologe, sondern Bezirksschullehrer in Lenzburg für Deutsch und Latein. Ich weiss nicht, ob mich das Studium der Klassischen Lateinischen Philologie und der Lateinischen Sprache des Mittelalters zu einem Altphilologen qualifiziert. Ich hatte allerdings an der Kantonsschule Griechisch und Hebräisch. Ich machte die sogenannte A-Matur.

Inwiefern war das Studium von Griechisch, Latein und Hebräisch von Nutzen für Ihr Hobby Fernschach?

Generell wohl wenig. Allerdings sehe ich die Fähigkeit, sich länger mit einer Sache auseinanderzusetzen oder auseinandersetzen zu wollen als Vorteil für beides.

Wie haben Sie den Weg zum Fernschach gefunden?

Ich habe es schon als Jugendlicher ausprobiert und mit Postkarten gespielt, aber keine Geduld gehabt. Mit dem Aufkommen von Internet und E-Mail habe ich zuerst mit Kollegen gespielt, dann Turniere bei der Schweizerischen Fernschachvereinigung (SFSV). Richtig eingestiegen bis ich dann beim Deutschen E-Mail Schachclub (DESC). Auf Servern ist es einfacher, die Züge zu übermitteln, und so bin ich beim International Correspondence Chess Federation (ICCF) gelandet.

Worin sehen Sie den Reiz, Fernschach zu spielen?

Meine Hauptmotivation war es, die Eröffnungssysteme fürs Nahschach genauer zu studieren. Ich merkte allerdings schnell, dass gewisse Varianten, die im Nahschach durchaus Potenzial haben, im Fernschach nicht geeignet sind. Ausserdem schätze ich es, mit Leuten aus der ganzen Welt in Kontakt zu kommen, die man sonst nie getroffen hätte. Mit einigen Gegnern tausche ich mich auch während der ganzen Partie aus.

Wie viele Stunden pro Woche spielen Sie Fernschach?

Das ist unterschiedlich, etwa zwei bis vier. Meistens spiele ich am Wochenende, da ich während der Woche mit der Schule wenig Zeit und oft keine Lust habe.

Wie viele Partien bestreiten Sie gleichzeitig?

Das schwankt stark. Meistens so zwischen 20 und 30, ich hatte auch schon über 60 am Laufen.

Welches ist Ihr grösster Erfolg im Fernschach?

Da würde ich sicher das Erreichen des IM-Titels nennen, wobei da auch einiges Glück dabei war.

Glück im Schach? Können Sie das präzisieren. Was ist vorgefallen?

Da man grobe Fehler durch das Checken mit starken Schachprogrammen minimieren kann, gewinnt man fast nur durch Einsteller oder wenn sich ein Spieler für ein Turnier anmeldet, vorzeitig aussteigt und man einen Forfaitpunkt erhält. Bei einem Turnier war beides der Fall, und ich kam glücklich zu zwei ganzen Punkten.

Inwiefern hat sich das Fernschach in den vergangenen Jahren beziehungsweise Jahrzehnten gewandelt?

Da sind sicher die immer stärker werdenden Schachprogramme zu nennen.

In der vorletzten Ausgabe der «Schweizerischen Schachzeitung» schreiben Sie fast schon mit einer Prise Selbstkritik: «Es ist ein offenes Geheimnis, dass es zunehmend schwieriger wird, im Fernschach zu gewinnen. Immer leistungsstärkere Schachprogramme ermöglichen es fast jedem, eine Stellung mit präzisen Zügen 'auszutrocknen' und auch gegen stärkere Gegner in den Remis-Hafen einzufahren.» Welche Bedeutung spielen Computer in der heutigen Fernschachszene tatsächlich?

Sie sind nicht mehr wegzudenken und machen sicher die grösste Arbeit. Gerade in wichtigen Turnieren wie Mannschaftsturnieren oder Weltmeisterschaftsfinals wird oft beklagt, dass der angeblich schwächere Gegner auf keinen Fall verlieren will und trockene Varianten spielt und klammert, wie man im Boxen sagen würde. Ein Spieler des WM-Finals beklagte sich, dass Spieler in offensichtlich ausgeglichenen Stellungen weiterspielen und auf einen Mouseslip des Gegners hoffen. Auch der eine Sieg im gerade zu Ende gegangenen A-Turnier des Jubiläumsturniers der SFSV kam so zustande (siehe «SSZ» 2/22).

Eine etwas ketzerische Frage lautet: Spielen heutzutage nicht einfach Schachprogramme gegeneinander?

Ich kann nicht für andere sprechen, aber bei mir macht der Computer die Hauptarbeit. Nach der Prüfung seiner Ergebnisse entscheide ich mich dann für einen Zug. Insbesondere in der Eröffnung verlasse ich mich eher auf Partien als auf Engines.

Wenn in Online-Schachturnieren Computer zu Hilfe genommen werden, werden Spieler und Spielerinnen ausgeschlossen, von Online-Plattformen verbannt und manchmal auch von ihren Verbänden gesperrt. Im Fernschach ist dies kein Thema mehr?

Wie gesagt, sind im Fernschach ja diverse Hilfsmittel erlaubt. Es gab zwar mal Versuche, Turniere ohne Computerunterstützung durchzuführen. Eine reizvolle Idee, aber wer kontrolliert das?

Sie zeichnen seit 2017 für die Rubrik Fernschach in der «Schweizerischen Schachzeitung» verantwortlich. Worin sehen Sie den Reiz, auch schachjournalistisch tätig zu sein?

Ich drücke mich gerne schriftlich aus, daher kommt wohl auch meine Vorliebe für tote Sprachen. Ich feile auch gerne an Formulierungen. Ausserdem finde ich es interessant, mich intensiver mit Partien auseinanderzusetzen. Aber vielleicht habe ich auch im falschen Moment ja gesagt…

Wie kommen Sie an die jeweils in der «SSZ» publizierten Themen und Partien heran?

Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal stolpere ich über interessante Partien in Turnieren, die ich selber spiele oder verfolge. Natürlich schaue ich immer mit einem Auge das WM-Finale an, vor allem jetzt, wo SIM Gilles Terreaux daran teilnimmt, oder als SIM Andreas Brugger mitspielte. Manchmal bekomme ich einen Hinweis oder eine Partie von einem anderen Spieler. Ausserdem habe ich mit verschiedenen Porträts versucht, der relativ anonymen Schweizer Fernschachszene ein Gesicht zu geben.

Bekommen Sie Feedbacks auf Ihre «SSZ»-Artikel?

In Form von Mails selten. Am meisten von meinen Vorstandskollegen bei Sitzungen oder an der Generalversammlung, wenn man sich sieht. Negative Reaktionen hatte ich noch nie.

Ihr Vor-Vorgänger als «SSZ»-Fernschach-Rubrikleiter, Gottardo Gottardi, kam im Finale der 15. Fernschach-Weltmeisterschaft 1996/2002 auf den geteilten 2. bis 4. Platz. Er verpasste eine WM-Medaille nur knapp wegen der Sonneborn-Berger-Wertung und sorgte für den grössten Erfolg in der Geschichte des Schweizer Fernschachs. Wie stehen die Schweizer Fernschachspieler heute international da?

SIM Andreas Brugger spielte vor ein paar Jahren im WM-Finale, gerade spielt SIM Gilles Terreaux mit. In der Ratingliste werden neun GM geführt, aber nur zwei (GM Philippe Berclaz und GM Wolfgang Standke) als aktiv. Im Vergleich zu ihrer Grösse ist die Schweiz sicher sehr gut vertreten.

Und wie steht es um die Schweizerische Fernschachvereinigung (SFSV)?

Sie zählt an die 100 Spieler, von denen etwa 30 aktiv an Turnieren teilnehmen und etwa 15 regelmässig an die GV kommen. Finanziell ist sie sehr gut aufgestellt und kann den Spielern ein attraktives Turnierangebot bieten. Wir werden auch immer wieder von anderen Nationen zu Freundschaftswettkämpfen herausgefordert.

Die SFSV organisiert auch die Schweizer Meisterschaft?

Sie organisiert jedes zweite Jahr eine Schweizer Meisterschaft und mindestens alle fünf Jahre Jubiläumsturniere.

Interessieren sich für diese Turniere auch Spieler und Spielerinnen, die nicht SFSV-Mitglieder sind?

Das kommt selten vor, am ehesten war das während der Corona-Pandemie der Fall.

Wie schwierig ist es, neue Interessenten und Interessentinnen für dieses spezifische Segment des Schachs zu finden – insbesondere auch bei der jüngeren Generation?

Das ist sehr schwierig, zumal die Engines immer mehr Arbeit übernehmen. Spielen jüngere Spieler online, werden sie eher von kurzen Bedenkzeiten wie Blitz oder Bullett angezogen oder bleiben bei Streamern hängen.

Können Sie uns die Wendung «bei Streamern hängen bleiben» erklären?

Mehr oder weniger prominente Spieler übertragen ihre Partien online, kommentieren sie auf witzige Weise oder stellen Videos von gespielten Partien ins Netz, die sie erläutern. Lerneffekt trifft auf Unterhaltung. Am bekanntesten sind wahrscheinlich GM Hikaru Nakamura, IM Georgios Souleidis oder die Botez-Schwestern.

Der Schweizerische Schachbund (SSB) gewann innerhalb eines Jahres 20 Prozent mehr Mitglieder, weil viele Vereine im Rahmen des Projekts Generation CHess Aktionen lancierten. Was macht die SFSV, um neue Mitglieder zu gewinnen?

Es ist wirklich schwierig. Es gibt zwei Turnierformen, mit denen man um neue Spieler buhlt: Zum einen Schnupperturniere, in denen sich Newcomer mit gestandenen Fernschachspielern messen können – zum anderen das Open, das alle zwei Jahre durchgeführt wird und allen Spielern offensteht.

Inwiefern profitieren Fernschachspieler auch fürs Partieschach?

Kommt darauf an, wie seriös man seine Fernschachpartien betreut. Ich kenne meine Eröffnungssysteme jetzt besser und verstehe Pläne in meiner Partieanlage tiefer. Ausserdem besteht die Möglichkeit, das Berechnen konkreter Varianten zu verbessern, was bei mir allerdings mehrheitlich der Computer übernimnmt.

Womit wir beim Thema «Oliver Killer und Partieschach» wären. Sie sind ja nicht nur Mitglied der SFSV, sondern auch des Schachclubs Lenzburg und des Schachklubs Aarau. Nachdem Sie mehrere Jahre als Captain der Lenzburger SMM-Mannschaft gewirkt hatten, findet man von Ihnen in der Führungsliste des Schweizerischen Schachbundes (SSB) in den Jahren 2020 bis 2023 nur noch vier Wertungspartien. Haben Sie keine Lust mehr auf Nahschach?

Ich war während der Corona-Pandemie extrem vorsichtig und habe meine sozialen Kontakte sehr reduziert. Da ich aber Fernschach und online Blitzschach spielte, hat mir in Bezug darauf nichts gefehlt. Die Mannschaftsleitung wollte ich schon länger abgeben und sah bei der erzwungenen Corona-Pause eine günstige Gelegenheit gekommen. Ich habe dann auch gemerkt, dass ich an einem warmen Sommertag lieber auf dem Balkon ein gutes Buch lese oder einen Ausflug mache als in einem stickigen Zimmer Holzfiguren über das Brett zu schieben. Das ist auch kein richtiger Ausgleich, wenn man die ganze Woche im Schulzimmer steht und auch dort mehrheitlich mit dem Kopf arbeiten muss. Zudem spielte Lenzburg die beiden letzten Saisons in der Nationalliga B. Das war mir zu streng, und ich konnte mich nicht motivieren, an Sonntagen gegen so starke Spieler anzutreten. Deshalb habe ich nur ab und an ausgeholfen.

Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Nahschach-Aktivitäten in naher Zukunft wieder etwas zu verstärken?

Ja, das ist eigentlich geplant. Ich möchte mich aber am Wochenende nicht so stark einschränken, dass ich mich für jede Runde SMM oder SGM verpflichte. Es reizt mich aber, wieder einmal ein mehrrundiges Turnier zu spielen – zum Beispiel das Bundesturnier.

Interview: Graziano Orsi

Facts & Figures zu Oliver Killer

Wohnort: Mägenwil/AG.

Geburtsdatum: 15. Januar 1976.

Beruf: Bezirksschullehrer (Deutsch- und Lateinlehrer).

Hobbies: Schach, Lesen, Joggen, Volleyball, Kino.

ELO (Schweiz): 2003 (Liste 4/23).

Klubs: Lenzburg, Aarau, Schweizerische Fernschachvereinigung.

Lieblingsschachspieler: Viktor Kortschnoi. Es ist unglaublich, welche Leistungen er bis ins hohe Alter erbracht hat. Seine beiden – leider verlorenen – WM-Kämpfe gegen Anatoli Karpow sind legendär, wo er nicht nur gegen seinen Gegner, sondern ein ganzes politisches System antreten musste. Ich durfte mehrfach gegen ihn im Simultan antreten. Eine interessante Persönlichkeit, die ihr Leben ganz dem Schach verschrieben hat.

Schach-Buchtipp: «Meine grossen Vorkämpfer» von Garry Kasparow.

Weblink

Schweizerische Fernschachvereinigung

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