Interview des Monats mit Roger Gloor: «Der Springer ist eine listige Figur»

von Markus Angst

Roger Gloor alias Alexander Rodshtein begann eines Tages die Menschen zu fragen, was sie wirklich bewegt.

ma - Roger Gloor hat unter dem Pseudonym Alexander Rodshtein hat ein Buch mit dem Titel «Wer bin ich eigentlich?» geschrieben. Wer denkt, dass Schach dabei eine Nebenrolle spielt, täuscht sich.

Der Titel Ihres Buches lautet: Wer bin ich eigentlich? Haben Sie persönlich dazu eine Antwort gefunden?

Jein, diese Antwort verändert sich stetig, obschon ich Mitte 20 einige grössere Erkenntnisse hatte. Das war auch ein Grund, warum ich mich ab diesem Zeitpunkt weniger oft ans Brett setzte.

Für Sie gab es ja nur Schach, Schach und Schach. Verraten Sie uns eine Erkenntnis, die einen Wandel verursachte?

Zwar fühlte ich mich innerhalb der familiären Schachszene sehr wohl, merkte jedoch zunehmend, dass es ausserhalb noch viel zu entdecken gibt. Das königliche Spiel ist längst nicht der einzige Ort, um sich kreativ auszutoben.

Schriftlich und kreativ haben Sie sich mit insgesamt 30 Porträts ausgetobt. Dies ist ihr Werk. Ein Porträt, bei dem Schach eine zentrale Rolle spielt, sucht man jedoch vergebens.

Das stimmt, böse Zungen mögen behaupten, dass das Absicht war, doch ich liess mich bewusst überraschen, was die Menschen mir zu erzählen hatten. So als würde man sich unvorbereitet auf eine Partie einlassen.

Worüber sollen wir denn noch reden? Über das königliche Spiel oder über ihre spannenden Lebensgeschichten?

Vielleicht können wir beides verknüpfen?

Ja, das können wir. In Ihrem Buch geht es um besondere Erinnerungen. Haben Sie welche an Ihr erstes Schachturnier?

Ja, letzthin fand ich sogar ein verpixeltes Foto von meiner ersten Teilnahme am Jugendteam-Turnier in Therwil von 2003, als ich mit elf Jahren noch ganz unbeschwert am Brett sass.

Das lässt schlussfolgern, dass die Unbeschwertheit später nachliess?

Ich hatte grosse Ambitionen, lag im Vergleich zu den Kindern an der Spitze geschätzt zwei Jahre im Rückstand. Der Druck kam aber ausschliesslich von mir selbst.

Und welche Erfolge resultierten konkret durchs Schachspiel?

Beispielsweise gewann ich die Schweizerische Schnellschachmeisterschaft U18. Schöne Erinnerungen habe ich auch an das Bieler Open 2012, als ich zwei Grossmeister und zwei Internationale Meister bezwang.

Und trotzdem hörten Sie auf? Die Beweggründe könnten spannend sein, oder?

Als ich 23 war, stagnierte meine ELO-Zahl bei 2350. Es hätte nochmals einige Anstrengungen benötigt, vor allem bezüglich Eröffnungen, um die Schwelle zum Internationalen Meister zu schaffen. Doch da sich meine Interessen verschoben, wurde es zunehmend schwieriger, mich fürs Training zu motivieren. Erst seit Kurzem kann ich das Spiel auch ohne Ehrgeiz geniessen, so spielte ich einige 2.-Liga-Partien in der Schweizerischen Mannschaftsmeisterschaft.

Zurück zum Buch. Kann man da auch von einem Erfolg und/oder einem spannenden Projekt sprechen?

Für mich persönlich definitiv. In finanzieller Hinsicht wird es mich kaum zu einem reichen Mann machen, aber hoffentlich reich im Herzen – kitschig formuliert. Letztendlich hoffe ich, dass es möglichst vielen Menschen einen Rat fürs eigene Leben mitgibt. Andere mit meiner Arbeit zu berühren, das ist meine Definition von Erfolg.

Berühren wir doch wieder eine Schachfigur. Welches ist Ihre Lieblingsfigur und aus welchem Grund?

Der Springer ist eine listige Figur, selbst geübte Spieler übersehen in der Hitze des Gefechts mal eine Gabel. Die Andersartigkeit im Vergleich zu den anderen Figuren spricht mich an – vielleicht auch eine Analogie zum richtigen Leben.

Gibt es im Buch auch Schlüsselstellen oder Erinnerungen, die unvergesslich sind?

Eine Stelle, die mich immer wieder beeindruckt, ist im ersten Portrait beschrieben. Hana fotografiert ihren dementen Vater, und da sie das bereits seit Jahrzehnten tut, ist er in diesen Momenten so wie früher, weil langjährige Erinnerungen geweckt werden. Es geht um die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren. Hierbei fällt mir auf, welch grosse Rolle Verluste in unserem Leben einnehmen. Das Schach ist keine Ausnahme.

Sie vernetzen die Verluste im Leben mit Schach. Können Sie das erklären und eventuell mit einem konkreten Beispiel erörtern?

Der Umgang mit Verlust spielt im Schach eine grosse Rolle. In welch anderer Tätigkeit gibt es so viele Überraschungsmomente wie hier? Wir alle kennen den Schock, in einer gewonnenen Stellung etwas zu übersehen und zu verlieren. Im Leben ist das nicht anders. Zum Beispiel: Eine Person, von der du dachtest, sie wäre kerngesund, erhält plötzlich eine Krebsdiagnose. Wie gehst du mit solch einer Situation um? Glücklicherweise gibt es ebenso viele unerwartete Wendungen zum Guten.

Der spanische Nationaldichter Miguel Cervantes brachte es auf den Punkt: Das Leben ist eine Partie Schach. Welche Parallelen sehen Sie?

Beispielsweise in puncto Entscheidungen. Manchmal hast du etliche Möglichkeiten zur Verfügung und du musst dich auf deine Intuition verlassen, denn du hast keine Chance, die Folgen abzusehen. Und wenn du dich entschieden hast, gibt es häufig kein Zurück mehr. Dann heisst es, sich mit der Situation zu arrangieren.

Und wie hat Ihr Buch Sie im Leben verändert?

Eine grundlegende Veränderung spüre ich (noch) nicht, es ist vielmehr ein Werkzeug, um der Aussenwelt zu zeigen, worum sich ein Teil meiner Arbeit dreht. Ich stehe auch nach der Veröffentlichung nicht jeden Tag mit einem Strahlen auf, bloss weil ich einen Lebenstraum erfüllen konnte.

Und welchen Hauptnutzen beziehungsweise Lesegenuss werden die Leser und Leserinnen haben?

Das Buch ist ein grosser Erfahrungsschatz, zusammengetragen aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Es mag gut sein, dass jemand nach dem Lesen sagt: «Ah, so habe ich mir das gar nie betrachtet, das könnte ich tatsächlich mal auf diese Weise versuchen.» Die Geschichten sind eine Horizonterweiterung, wie ich zu sagen pflege, so als würde man beim Schach mit gefestigtem e4-Repetoire doch mal einen genaueren Blick in 1. d4 werfen…

Interview: Graziano Orsi

Roger Gloors Buch

Alexander Rodshtein: Wer bin ich eigentlich?

Hardcover mit Fadenheftung, 272 Seiten, 40 Farbbilder.

Masse: 24,5 x 17,7 x 2,4 cm, 815 g.

1. Auflage 2023 (Printed in Switzerland).

ISBN 978-3-033-09752-0.

Preis: ab 47 Franken.

Weblink

Artikel in der «Aargauer Zeitung».

Facts & Figures zu Roger Gloor

Wohnort: Suhr/AG.

Alter: 32.

Beruf: selbständiger Autor und Videoproduzent.

Hobbys: Schach, Squash, Fotografie, Lesen.

ELO (Schweiz): 2356 (Liste 5/23).

Klub: Aarau.

Lieblingsschachspieler: Alireza Firouzja. Mich beeindruckt, dass er mit acht Jahren relativ spät das Spiel erlernte und solch eine Steigerung hinlegte. Zusätzlich widmet er sich einer Karriere in der Modeindustrie (was ich so mitbekommen habe), obwohl er sich voll auf die Gewinnung des WM-Titels fokussieren könnte.

Schach-Buchtipp: Die Grandmaster Preparation-Reihe von Jacob Aagaard. Der authentische, kurzweilige Erklärstil des Autoren sagt mir zu, ebenso die reichhaltigen Aufgabensammlungen. Die Bücher gaben mir neue Ansätze für mein eigenes Spiel.

 

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