Interview des Monats mit Dragomir Vucenovic: «Es ist ein Geheimnis des Lebens, den richtigen Weg zu finden»

von Markus Angst

Dragomir Vucenovic gab ein Buch über die Schweizer Schach-Senioren-Mannschaft heraus.

ma - Der 83-jährige Dragomir Vucenovic zeigt in seinem Buch «Zug um Zug: 20 Jahre Schweizer Schach-Senioren-Mannschaft» auf, welche Wege zum Ziel führen können – im Leben und am Schachbrett.

Uitikon. Chliwisstrasse. Sonntagmorgen um 10 Uhr. Dragomir Vucenovic begrüsst mich vor seinem Haus und stellt in der Wohnung die folgende Frage: «Wollen wir die Figuren aufstellen?» Meine Antwort lautet: «Selbstverständlich ja.» Denn im Zentrum des Gesprächs wird das Schachspiel und das von ihm herausgegebene Buch «Zug um Zug: 20 Jahre Schweizer Schach-Senioren-Mannschaft» stehen. "Welchen Zugang haben Sie zum Schach? Was bedeutet Ihnen dieses Spiel?", will Vucenovic von mir wissen. Und ich erzähle ihm meine Schachgeschichte, die Züge wie Tod, Trauer und Überlebenskampf enthält.

Und was denken Sie, Herr Vucenovic?

Das Leben ist ein Kampf. Man muss kämpfen. Das Motto meines Lebens ist in den folgenden drei Buchstaben: CHF.

Ich erkenne darin die Schweiz, weiss aber nicht, was das F bedeuten könnte. Verraten Sie es mir?

C steht für Creativity, H für Humanity und F für Family. Dies gehört zu meinem Leben.

Dragomir Vucenovic beginnt von seinem Leben, von seinem Kampf zu erzählen. Während des Zweiten Weltkrieges musste die wohlhabende Familie von Bosnien nach Serbien flüchten. In Belgrad nahm eine Tante sie auf, und zu sechst wohnten sie in einer 45 Quadratmeter grossen Wohnung. Als kleiner Junge stand er stundenlang in einer Schlange, um ein wenig Zucker oder Mehl zu bekommen. Die Familie Vucenovic musste bei null beginnen. Erschwernisse kamen hinzu. An der Macht waren die Kommunisten, die der bürgerlich orientierten Familie kritisch gegenüber standen – sehr kritisch.

Sie erlebten den Überlebenskampf hautnah.

Als der Vater und meine Tante eines Tages von den kommunistischen Machthabern abgeführt wurden, spürte ich einmal mehr, dass wir in Lebensgefahr schwebten. Ein Freund setzte sein eigenes Leben aufs Spiel, um sie zu retten. Er kämpfte für ihr Überleben – mit Erfolg.

Dragomir Vucenovic und seine Eltern überlebten den Krieg. Die Geschichten seien ein Mosaik des Lebens, erklärt der 83-Jährige. Und es folgen im Gespräch noch weitere Erlebnisse, weitere Stationen in seinem Leben. Nach dem Gymnasium in Belgrad beendete er mit 23 Jahren sein Studium und war diplomierter Elektro-Ingenieur. In die Schweiz kam er 1966, da der Vater eines Studienfreundes die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Schweiz schätzte.

Welchen Hauptunterschied erkannten Sie damals zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und der Schweiz?

Meiner Meinung nach findet man in der Schweiz Ruhe und Respekt, wobei neben dem Menschen auch dessen Eigentum respektiert wird. Dies habe ich in Jugoslawien nie gefunden.

Dragomir Vucenovic ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und ist mittlerweile vierfacher Grossvater. Serbien bezeichnet er als sein Mutterland. Die Schweiz ist zu seinem Vaterland geworden.

Was kommt Ihnen denn in den Sinn, wenn Sie an die Schweiz denken?

Die drei K.

Und was bedeuten diese drei Buchstaben?

Kommandieren, kontrollieren und korrigieren.

Er ist sich bewusst, dass dieser Vergleich eine starke militärische Assoziation enthält. Nichtsdestotrotz steht er zu diesem Vergleich.

Können Sie Ihre Aussage präzisieren?

Im Leben habe ich mir stets Ziele gesetzt. Und danach macht man sich auf den Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Tatsache ist, dass es viel einfacher ist, sich ein Ziel zu setzen als ein Ziel zu erreichen. Es ist daher entscheidend, dass man sich die Frage stellt: Bin ich auf dem richtigen Weg?

Und wenn nicht?

Dann gilt es, Korrekturen vorzunehmen.

Im Verlaufe des Gesprächs merke ich, dass er das Kommandieren nicht militärisch meint. Es ist eher sein Wunsch, dass die Menschen sich selber «befehligen» beziehungsweise durch Selbstdisziplin sich Ziele setzen und vorwärtsschreiten. Er arbeitete in den ersten zwei Jahren in der Schweiz bei der Maschinenfabrik Oerlikon, leitete ein anspruchsvolles Industrie-Grossprojekt in Island, sammelte bei der Computerfirma Univac weitere Erfahrungen und baute bei der UBS ein weltweites Computer-Netzwerk auf. Seine Frau (auch diplomierte Elektro-Ingenieurin) holte er in die Schweiz. Sie war ebenfalls eine talentierte und erfolgreiche Programmiererin/EDV-Analytikerin und bei der gleichen Grossbank wie er tätig.

Und wie verlief Ihre aufs Schach orientierte Karriere?

Ein unvergessliches Erlebnis war meine Nominierung für die Schacholympiade in Luzern im Jahr 1982. Ich durfte für die zweite Schweizer Mannschaft spielen.

Dragomir Vucenovic hatte zwei Jahre vorher den Schweizer Pass bekommen, und es war für ihn eine Ehre, für die Schweiz anzutreten und zu kämpfen. In sieben Runden erzielte er 4½ Punkte. Alle Jahreszahlen und Punkte und gar bestimmte Stellungen auf dem Schachbrett schildert er, ohne Notizen hervorzuholen.

Wie machen Sie dies?

Meine Memory ist so aufgebaut, dass ich alle Jahre indexiere. Die Folge davon ist, dass Ordnung herrscht. Es ist ein systematisches Denken und Abspeichern, so dass auch die Analyse erfolgen kann und erleichtert wird.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ich führe Buch über alle Reisen, die ich mit meiner Frau unternehme. Oder: In Tabellen halte ich das Wichtigste schriftlich fest, um schnell die Übersicht zu gewinnen und mir das Ganze besser zu memorisieren.

Was hilft neben dem herausragenden Gedächtnis auch noch beim Schachspielen?

Die Fokussierung aufs Schachspiel. Ich kann mich derart konzentrieren, dass ich mich förmlich ins Spiel «versenke». Es ist schon vorgekommen, dass ich im Schlaf die Gewinnzüge herausgefunden habe.

Und worauf achten Sie zusätzlich, wenn Sie Schach spielen?

Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, eine gute Strategie zu haben. Eine zentrale Frage lautet dabei: Wie kann ich meine Stellung verstärken? Und stets gilt es zu beachten, nicht auf den falschen Weg gelockt zu werden beziehungsweise die Irrwege zu erkennen und auszuschliessen.

Er erwähnt wieder den Schlüsselbegriff Weg. Und sein Lebensweg führte ihn in die Schweiz. Amerika war eine Option. Doch seine Frau Gordana konnte ihn von den Vorzügen der Schweiz überzeugen. Die Folge war, dass er eine Schweizer Schach-Senioren-Mannschaft gründete und sie mit Peter Hohler insgesamt 20 Jahre lang führte. In seinem Buch sind daher unzählige Tabellen, Spiele, Berichte und Fotos abgebildet. 60 Bücher liess er in Belgrad drucken. Es ist ein Buch für Freunde und Weggefährten. Ein strukturiertes Buch, das historische Siege und Niederlagen schriftlich festhält. Anekdoten erzählt Dragomir Vucenovic so, dass der Zuhörer stets auf die nächste gespannt ist. Ein Beispiel: Wenn er am Brett 2 einen ungenauen Zug spielte, ging Grossmeister Viktor Kortschnoi zu Dragomirs Frau Gordana und sagte ihr, dass ihr Mann endlich die wichtigen Bücher lesen solle.

Was kommt Ihnen zusätzlich noch in den Sinn, wenn Sie an Viktor Kortschnoi denken?

Seine Präsenz und sein Schachkönnen haben uns motiviert, Höchstleistungen am Brett anzustreben.

Dragomir Vucenovic war als Junge nicht vernarrt ins Schachspiel. Mit sechs Jahren brachte ihm sein Vater das Schachspiel bei. Er interessierte sich aber auch für andere Sportarten wie Fussball und Tischtennis. Mit 18 Jahren gewann er die serbische Jugendmeisterschaft. Dies befeuerte ihn, sich intensiver mit dem Schach auseinanderzusetzen. Es folgten Siege, Niederlagen und Schlüsselerlebnisse, die sich ins Gedächtnis einbrannten.

Können Sie konkret etwas schildern?

1956 spielte in Belgrad Jugoslawien gegen die Sowjetunion. Der damalige Präsident der Schachgesellschaft Zürich, Alois Nagler, amtete als Schiedsrichter. Unvergesslich war für mich, wie er mit seiner Art für Ruhe und Ordnung im Saal sorgte.

Dragomir Vucenovic stellt am Brett die Stellung auf, die zu einem Tumult im Saal geführt hat. Die Emotionen liessen sich fast nicht mehr kontrollieren. Vom Ehrgeiz zerfressen standen sich zwei Nationen gegenüber. Nur der Sieg zählte. Doch Alois Nagler beruhigte die Gemüter, klärte die Situation an einem Schachbrett und behielt die Kontrolle übers Schachturnier.

Was war denn so speziell an dieser Partie? Können Sie die Details schildern?

In der Partie Borislav Ivkov mit Weiss (Jugoslawien) gegen Efim Geller mit Schwarz (Sowjetunion) brachte Weiss den gegnerischen König ins Mattnetz. In diesem kritischen Moment zog Schwarz den letzten Trick aus dem Ärmel und drohte dem weissen König über die ungeschützte erste Reihe ein einzügiges Matt. Um dieses Matt zu parieren, spielte Weiss den Bauernzug g2–g4, um das Fluchtfeld g2 frei zu kriegen. Schwarz antwortete mit dem Springerzug Sf5–h4 und sperrte das Feld g2. Weiss bemerkte diese Sperrung nicht, verstärkte seinen Mattangriff, und Schwarz mattierte den weissen König. Ivkov war schockiert, und das Publikum im Saal reagierte sehr laut. Dann kam Schiedsrichter Alois Nagler hinzu, und mit seinen ruhigen Gesten und einem freundlichen Lächeln beruhigte er das Publikum. Danach nahm er mit tröstlichen Worten zur Kenntnis, was sich wirklich in dieser Partie abgespielt hatte. Zuerst war ich auch schockiert, aber nach der Reaktion des Schiedsrichters war ich so beeindruckt, dass dieses «Theaterstück» für lange Zeit in meinem Gedächtnis blieb.

Aussergewöhnlich ist auch das Schlusswort in seinem Buch: «Über die Jahre hinweg haben wir gelernt – wie im Leben –, dass die Zusammenarbeit und das Verständnis für den anderen entscheidend sind.»

Wollen Sie dazu noch etwas ergänzen?

Jeder Mensch kann Fehler machen. Falls man etwas kritisiert, gilt es, seine Worte so zu wählen, dass etwas Positives daraus entsteht. Wir wissen doch, dass aus den Niederlagen viele Erkenntnisse gewonnen werden können.

Dragomir Vucenovic notiert auf meinen Wunsch drei Spiele auf einem Blatt, die für ihn aussagekräftig waren. Eine Partie spielte er kürzlich gegen einen Spieler, der über 2310 ELO aufwies. Der 83-Jährige tauschte im Endspiel seinen Turm gegen einen Springer, kontrollierte das Zentrum, liess in der Verteidigung nichts anbrennen, drang mit seinem Läufer in die gegnerische Stellung ein, zentralisierte ihn, engte den gegnerischen König ein, drohte mit einem Grundlinienmatt, bewegte einen Bauern in Richtung Umwandlungsfeld und bedankte sich schlussendlich beim Gegner, der das Spiel aufgab.

Ich bin fasziniert von diesem Spiel und insbesondere von Ihrem Läufer.

Es ist ein Geheimnis des Lebens, den richtigen Weg zu finden.

Interview: Graziano Orsi

Dragomir Vucenovic persönlich

Wohnort: Uitikon.

Geburtsdatum: 25. März 1941.

Beruf: Dipl. Elektro-Ingenieur und eidg. dipl. Organisator.

Titel: FIDE-Meister.

Klubs: SG Zürich, UBS Zürich, Schweizer Schach Senioren.

Rating: 2111.

Erfolge: Weltmeister ACO (Amateur Chess Organisation) 65+ 2023, Schweizer Seniorenmeister 2001, 2004, 2006, 2007, 2011, 2012.

Lieblingsschachspieler: Paul Keres («er war der 'ewige Zweite'»).

Lieblingsbücher: «Medicus» von Noah Gordon und «Die Endspieluniversität» von Mark Dworetzki.

Das Schachgeheimnis in 4 Buchstaben: SMIT
S = Strategie
M = Motivation
I = Intuition
T = Taktik

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