Interview des Monats November mit WIM Sofiia Hryzlova: «Schach ist ein Werkzeug, um mich selber besser kennenzulernen»

von Markus Angst

Sofiia Hryzlova absolviert derzeit ein Praktikum auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Schachbundes.

ma - WIM Sofiia Hryzlova ist aus der Ukraine ins Tessin geflüchtet und setzt ihre Schachkarriere in der Schweiz mit Erfolg fort. Seit diesem Herbst macht die Nationalspielerin ein Praktikum auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Schachbundes (SSB) im Haus des Sports in Ittigen.

Sie nahmen nach der Flucht im Jahr 2022 aus der Ukraine Wohnsitz in Taverne-Torricella. Warum gerade im Tessin?

Die Entscheidung, in die Schweiz und insbesondere ins Tessin zu gehen, wurde 2022 zufällig getroffen und ist eine interessante Geschichte. Meine Mutter und ich wurden von einem Universitätsfreund meines Vaters eingeladen. Er ist Schweizer, hat aber ein Studienjahr an der Kunstakademie in Kiew verbracht. Seitdem ist er befreundet mit meinem Vater und hat über 25 Jahre lang per E-Mail Kontakt aufrechterhalten. Er hat uns in dieser schwierigen Situation 2022 sehr geholfen und uns aufgenommen, als wären wir Teil seiner Familie. Meine Mutter und ich haben die ersten Monate der Migration in seinem Haus mit seiner Familie verbracht und bis in diesem Jahr im Haus seines Bruders.

Was gefällt Ihnen im Tessin?

Das Tessin ist ein sehr besonderer und interessanter Ort. Neben der Schönheit der Natur und den vielen sonnigen Tagen im Jahr ist es als einziger italienischsprachiger Kanton der Schweiz ein kultureller Treffpunkt. Viele Menschen kommen aus Italien, und so habe ich viel über dieses Land entdecken können, das mich schon als Kind fasziniert hat. Gleichzeitig hört man fast überall – besonders in den touristischeren Gebieten – auch die deutsche Sprache, und das schafft eine wirklich angenehme internationale Atmosphäre.

Und welchen Eindruck haben Sie bis anhin von der Schweiz?

Die Schweiz ist definitiv eines der schönsten Länder, die ich je gesehen habe. Alles ist sehr gut gepflegt, alles ist an seinem Platz, man lebt gut. Was ich an der Schweiz wirklich schätze, ist die Gleichberechtigung der Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Es ist ein perfektes Beispiel für die Möglichkeit, verschieden zu sein, aber gleichzeitig vereint, ohne Konflikte. Etwas, was einige andere Länder unbedingt lernen sollten.

Gab es bei Ihrer Integration Schwierigkeiten?

Aus dieser Sicht war ich eine sehr glückliche Person. Dank des Schachs konnte ich fast sofort nach meiner Ankunft viele neue Menschen kennenlernen. Auch in der Schule – der SPSE in Tenero – wurde ich sehr gut aufgenommen. Viele Menschen versuchten mir bei der Sprache zu helfen und schafften einen sicheren Raum für meine Integration. Was auch dazu beigetragen hat, den Integrationsprozess zu beschleunigen, ist die Tatsache, dass ich in der Schule das einzige ukrainische Mädchen war. Ich musste mich deshalb zwangsläufig anstrengen, die Sprache so schnell wie möglich zu lernen.

Wie wurden Sie hier aufgenommen?

Wie ich bereits sagte, habe ich in allen Bereichen meines Lebens nach der Migration in die Schweiz nur Hilfsbereitschaft und eine sehr freundliche Einstellung gefunden. Insbesondere die Familie Martinoni, die uns aufgenommen hat, ist ein wahres Beispiel für menschliche Werte und Solidarität mit denen, die sich in Schwierigkeiten befinden. Ich weiss, dass auch innerhalb vieler Familien die Beziehungen zwischen den Menschen nicht immer so grosszügig sind, wie es mit uns war, die wir praktisch Fremde waren. Ich bin zutiefst dankbar dafür und werde es für immer bleiben. Es ist ein Beispiel, das ich eines Tages auch an meine Kinder weitergeben möchte.

Haben Sie etwas Aussergewöhnliches, etwas Humorvolles oder etwas Spezielles erlebt als Ukrainerin in der Schweiz?

Ich habe gelernt, den Schweizern nie zu vertrauen, wenn es um einen Bergspaziergänge geht. Die Entfernungen in den Bergen zählen hier nicht. Einmal bin ich zu einem «leichten Spaziergang vor dem Mittagessen» zum Retico-See gegangen. Laut der Beschreibung meiner Freunde befand sich der See in kurzer Entfernung vom Haus. Wir sind jedoch nach drei überaus anstrengenden Stunden Marsch angekommen, die zum Teil sehr steil waren. Mehrmals hatte ich im Sinn, einen Helikopter anzurufen, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien...

Wie erlernten Sie die italienische Sprache?

Wie eine Person, die nicht schwimmen kann und ins Wasser geworfen wird. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft in der Schweiz kannte ich kein Wort Italienisch, und in den ersten Schultagen konnte ich mich nicht vom digitalen Übersetzer lösen, weil ich fast jedes zweite Wort nicht verstand. Ehrlich gesagt war es manchmal sehr stressig, und mir schien, dass ich nie fliessend sprechen können würde. Am Ende habe ich es aber geschafft.

Was bereitet Ihnen noch Mühe in Bezug auf die Kommunikation im Tessin?

Im Tessin fühle ich mich jetzt wohl, ich bin entspannt. Es ist Zeit für eine neue Herausforderung: Deutsch lernen.

Haben Sie die Gelegenheit, im Kanton Tessin Ihrem Lieblingshobby Schach nachzugehen?

Ich habe immer versucht, weiterhin Schach zu trainieren, auch in den arbeitsreichsten Lebensperioden – manchmal mit mehr Erfolg, manchmal mit weniger. Tatsächlich spielt für mich die geografische Lage keine grosse Rolle: Ich habe alles, was ich brauche, auf dem PC geladen.

Sie sind WIM. Welches Hauptziel haben Sie sich im Schach gesetzt?

Wie für viele andere ist das grosse Ziel meiner Laufbahn, Grossmeister zu werden. Ich möchte den männlichen GM-Titel erreichen, auch wenn ich verstehe, dass es sehr schwierig ist.

Wie wollen Sie dieses Ziel konkret erreichen?

Ich finde es wichtig, ein grosses Ziel zu haben, aber ohne zu oft daran zu denken. Meiner Meinung nach ist es produktiver, sich auf den Prozess und nicht auf das Ergebnis zu konzentrieren. Um mein Ziel zu erreichen, versuche ich einfach, jeden Tag etwas für das Schach zu tun. Auf Englisch: «one step at a time.»

Wie sehen die Meilensteine aus?

Ohne Zweifel wäre der erste Meilenstein, den WGM-Titel zu schaffen, dann werden wir sehen.

Die Basis für Ihre schachlichen Erfolge wurden in der Ukraine gelegt. Können Sie uns schildern, wie das genau erfolgte?

Historisch gesehen wurde das Schachspiel in der Ukraine schon immer sehr geschätzt und entwickelt. Es gibt viele Amateurspieler(innen) und zahlreiche Schachvereine – fast in jeder Stadt. Als ich klein war, hatte ich das Glück, am Training eines sehr guten Trainers teilnehmen zu können. In unserer Gruppe war ich die Schwächste. Tatsächlich wurde ich nur dank des guten Willens des Trainers zugelassen, den Unterricht zu besuchen, auch ohne aktiv teilzunehmen. Damals war ich zwölf Jahre alt und hatte etwa 1600 ELO. Die Jungs, welche die Gruppe bildeten, waren älter und stärker als ich. Unter ihnen war auch Evgeny Stembuliak, Gewinner der U20-Weltmeisterschaft 2019. Es war eine ausgezeichnete Schachschule, ein wahrer Beginn meiner Leidenschaft für das Spiel.

Haben Sie das Gefühl, dass die Schweiz Sie weiterentwickeln in Bezug auf Ihre schachlichen Fähigkeiten kann?

Definitiv. In der Schweiz hatte ich die einzigartige Gelegenheit, Mitglied der Nationalmannschaft zu werden. Es ist eine sehr wertvolle Gelegenheit für das Wachstum. An Mannschaftsturnieren wie Olympiaden oder Europameisterschaften teilnehmen zu können, gibt einen enormen Motivationsschub. Die Weltelite scheint nicht mehr so unerreichbar, du kannst gegen sie spielen! Ich bin auch sehr froh, finanzielle Unterstützung für Unterricht mit qualifizierten Trainern zu bekommen. In der Ukraine wäre das nicht möglich gewesen.

Einen grossen Erfolg konnten Sie 2023 mit dem Gewinn der Schweizer Meisterschaft bei den Damen erzielen. 2024 und 2025 wurden Sie jeweils Vizemeisterin. Sind Sie zufrieden mit Ihren Leistungen?

Leider durchlief ich im Schach eine Stagnationsperiode, die mehr als ein Jahr dauerte. Trotz der Anstrengungen waren die Ergebnisse kaum sichtbar – mit einigen Ausnahmen wie dem Sieg bei der Schweizer Damen-Meisterschaft 2023. Letztes Jahr verlor ich in der Schlussrunde der Olympiade in einem einzigen Zug den Turm und war wirklich aufgebracht. Zum Glück schaffte es die Mannschaft, die Begegnung trotz meiner Niederlage zu gewinnen. Im Verlaufe dieses Jahres sah ich endlich die lang erwarteten Fortschritte. Ich schaffte es, die 2300 ELO-Punkte zu überschreiten und einige starke Spieler zu schlagen. Jetzt bin ich fast zufrieden, aber es gibt immer Raum für Verbesserungen.

Neben dem Schach gibt es ja noch ein Berufsleben. Was hat Sie dazu bewogen, ein Praktikum auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Schachbundes im Haus des Sports in Ittigen zu absolvieren?

Mein Praktikum beim Verband zu absolvieren ist wirklich ein Vergnügen für mich. Diese Gelegenheit war dank der Unterstützung von Peter Erismann und der Verbandsleitung möglich. Einen Arbeitsplatz im Tessin zu finden, ist nicht einfach. Irgendwann dachte ich daran, zu versuchen, die Schule mit meinem Sportleben zu vereinbaren. Ich kannte das Schach nur im Spielsaal, jetzt ist es sehr interessant, auch all die Arbeit zu sehen, die dahintersteckt.

Was dürfen Sie dort konkret machen zurzeit?

Ich kümmere mich um verschiedene Aufgaben im Büro. Die Arbeit betrifft die Vorbereitung und Verwaltung von Dokumenten, die Administration, die Buchhaltung und ähnliches. Bisher kann ich noch nicht völlig selbstständig arbeiten, ich lerne durchs Beobachten und folge meinen Kolleg(inn)en, die Erfahrung haben.

Wie gross ist Ihr Pensum, und wie lange dauert das Praktikum?

Für mein Schuldiplom muss ich das Praktikum zu 100 Prozent innerhalb von 52 Wochen absolvieren, danach werde ich eine praktische Prüfung für die Berufsmaturität ablegen. Der Verband hat mir die Möglichkeit gegeben, 50 Prozent zu arbeiten und das Praktikum auf zwei Jahre aufzuteilen. So behalte ich die Möglichkeit, an Turnieren teilzunehmen und die notwendige Zeit meinem Schachtraining zu widmen.

Welche beruflichen Pläne haben Sie im Anschluss?

Die Praktikumserfahrung zeigt mir, dass administrative und organisatorische Arbeit im Sportbereich sehr interessant sein kann. Nach dem Ende des Praktikums würde ich mich auch gerne an der Universität einschreiben, aber ich versuche noch herauszufinden, welcher Weg für mich am besten geeignet wäre.

Ist Schachprofi für Sie ein Thema?

Sicherlich werde ich versuchen, mein Maximum im Wettkampfschach zu erreichen, jedoch bedeutet heutzutage ein Schachprofi zu sein fast immer auch, Vollzeit-Trainer zu sein. Diese beiden Aktivitäten zu vereinbaren kann sehr schwierig sein und erfordert viel Energie, es ist nicht ein Weg für alle. In meinem Leben würde ich gerne auch versuchen, Schach zu unterrichten, aber wahrscheinlich erst nach dem Ende der Wettkampflaufbahn.

Wieviel Zeit wenden Sie für Schach pro Tag auf?

Das hängt vom Tag ab. Meine Hauptregel ist mindestens 45 Minuten pro Tag, auch wenn es bedeutet, nur einige Probleme auf Lichess zu lösen oder ein paar Blitz-Partien zu spielen. Manchmal, besonders vor wichtigen Turnieren, passiert es mir, ganze Tage mit dem Studium des Spiels zu verbringen, und ich bemerke nicht einmal, wie die Zeit verfliegt. Ich war immer produktiver im Sommer, wenn keine Schule war und ich frei war, den Tag nach meinem Belieben zu planen.

Was bedeutet Ihnen Schach grundsätzlich?

Es ist ein Werkzeug, um mich selbst besser kennenzulernen. Manchmal schaffe ich es mit dem Schach, meine eigenen mentalen Grenzen zu überwinden, trotz Müdigkeit und Niederlagen zu arbeiten. Besonders die Ergebnisse, die nach diesen Anstrengungen erreicht werden, geben viel Zufriedenheit. Im Allgemeinen finde ich es wichtig, das eigene Gehirn zu trainieren, es auch herauszufordern – man fühlt sich danach gut.

Können Sie uns im Zusammenhang mit Schach ein Schlüsselerlebnis schildern?

Eine unvergessliche Erfahrung und eine liebe Erinnerung im Zusammenhang mit Schach war für mich die U16-Europameisterschaft 2019. Ich war 14 Jahre alt und nahm zum ersten Mal an einem internationalen Turnier auf hohem Niveau teil. Weder ich noch mein damaliger Trainer hatten besondere Erwartungen. Wir sahen es hauptsächlich als Wachstumsgelegenheit, aber auch als eine Art Urlaub, den ich mit meinen Eltern teilen konnte. Eine Vorbereitung gab es fast nicht. Die Vormittage verbrachten wir mit Spaziergängen mit meinen Eltern und einigen Freunden durch die Altstadt von Bratislava, genossen die Sonne und die Atmosphäre der Stadt. In den Partien eröffnete ich mit Weiss oft mit 1. f4, danach suchte ich zu improvisieren und die Gegnerinnen in ungewöhnliche Stellungen zu bringen. Dennoch, trotz des lockeren Ansatzes und dem Fehlen einer spezifischen Vorbereitung, schaffte ich es, alle zu überraschen, mich selbst zuerst, und gewann die Bronzemedaille. Dieses völlig unerwartete Ergebnis war für mich eine Wende. Es liess mich verstehen, dass ich auf gutem Niveau konkurrieren konnte und gab mir vor allem Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Und zum Schluss: Was bringt Ihnen Schach fürs Leben?

Sehr viele schöne Erfahrungen. Dank des Schachs konnte ich viele Länder und Städte sehen, die meisten meiner Freunde kennenlernen, sehr viel über das Leben im Allgemeinen lernen...und viele wunderschöne Najdorf-Varianten.

Interview: Graziano Orsi

Sofiia Hryzlova persönlich

Wohnort: Taverne-Torricella und Bern.

Geburtsdatum: 11. November 2004.

Hobbys: Lesen, Fremdsprachen lernen, Yoga, Ballett.

ELO (Schweiz): 2271.

Titel: WIM (seit 2022).

Klubs: SG Luzern, Swisschess Academy Lugano, DSSP.

Lieblingsschachspieler: Michail Tal, Arjun Erigaisi.

Schach-Buchtipp: «Zurich International Chess Tournament 1953» von David Bronstein.

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